Das passt sehr gut Hannibal, denn ich habe gerade meinen Kurzkommentar auf eine Kritik ausgeweitet. 😉
Deutschland. Ein Wintermärchen
Die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland liegt nun ein halbes Jahr zurück. Ein halbes Jahr, seit 32 Teams aus 32 erlesenen Ländern nach vier Jahren Wartezeit endlich wieder mit uns ein globales Ereignis feierten.
Für Deutschland war dieses Mal aber schon im Vorfeld etwas ganz Besonderes, nämlich die erste WM im eigenen Land seit 32 Jahren und vermutlich die letzte, die man als Zeitzeuge noch miterleben wird.
Doch welche Bedeutung die Veranstaltung in Wirklichkeit erlangen würde, war an diesem 9. Juni 2006, als der Gastgeber gegen Costa Rica mit einem 4:2 eröffnete, noch gar nicht richtig klar. In jenem Sommer bewegte sich etwas nicht nur im Land der ewigen Nörgelei und der grauen Wolken, wie außenstehende Beobachter gerne feststellten, sondern auf der ganzen Welt. Der im Vorfeld für seine Methoden extrem attackierte Jürgen Klinsmann und sein Team wurden zu mehr als einem schlichten fußballerischen Vertreter Deutschlands, nämlich zum Symbol für den Fortschritt, für die Weiterentwicklung über den Glauben an die eigene Stärke. Eine Euphoriewelle der Begeisterung trieb das deutsche Team sportlich auf den dritten Platz, doch noch viel wichtiger: Es trieb Deutschland in sich und mit der Welt viel näher zusammen.
Das sind Prozesse, die bereits unter sozialwissenschaftlichen Aspekten untersucht wurden und noch werden. Prozesse, welche die ganze Welt etwas angehen und diese Welt auch mitverändern. Selbst in England und den Niederlanden ist Deutschland nicht mehr ganz das Synonym für Nationalsozialismus; von dem Gedanken, die Deutschen liefen durch die Straßen und erhöben die rechte Hand zum Gruß, hat man sich erfreulicherweise (allerdings oft mit leichtem Erstaunen) etwas abgewandt, und Schwarzafrikaner konnten ihre Furcht vor rassistischen Übergriffen nach dem Besuch in dem mitteleuropäischen Fleck Erde ablegen, kurz: Die Deutschen haben die Chance wahrgenommen, der Welt ihre Schokoladenseite zu zeigen. Es war wortwörtlich ein Sommermärchen, dessen Zauber aber leider genauso schnell abflaute wie er aufkam.
Dennoch boten sich dem “Das Wunder von Bern”-Regisseur Sönke Wortmann alle Wege und Möglichkeiten für eine hervorragende Dokumentation. Beim DFB fand er nach einem Testlauf im Rahmen des Confederations Cup jede Unterstützung und gelangte in verschlossene Bereiche, die natürlich absolute Exklusivität versprechen. Denn jetzt ist die WM vorbei und Wortmann wird für immer der Einzige sein, der so nah bei der Mannschaft sein durfte - niemand anderer als er wird jemals wieder solche Insider-Einblicke in den Turnierverlauf zeigen können.
Wortmann wurde zwangsläufig zum Teil der Mannschaft, brachte sich sogar durch die Aufbereitung von Motivationsvideos aktiv in den Prozess ein und hatte damit gewissermaßen gar Einfluss auf das Abschneiden im Turnier. Der DFB-Trainingsanzug diente ihm in den vier entscheidenden Wochen als eine Art Tarnkleidung. Sein Job als Dokumentarfilmer ist es schließlich, sich unsichtbar zu machen. Ja, “Deutschland. Ein Sommermärchen” ist nichts anderes als eine Tierdokumentation, nimmt die Spezies Fußballspieler in ihrem natürlichen Revier auf und teilt diese exotischen Bilder mit der Welt.
Und das ist der Gedanke hinter diesem Projekt. Wortmann liegt nichts daran, die Stimmung der WM einzufangen, den Zeugen des Turniers ein wohliges Flashback-Gefühl zu liefern oder die Auswirkungen der WM auf Wirtschaft und Gesellschaft weiterzudenken. Nein, der Fokus liegt auf einem entscheidenden Rädchen im Getriebe: Der deutschen Nationalmannschaft.
Wortmann sieht sich weiterhin in der Pflicht, dem Recht des Zuschauers auf ein ungestrecktes Teilen der WM mit den “Sommerhelden” nachzukommen. Dass noch im gleichen Jahr, nämlich gestern, am 06.12.2006, dieser Film der breiten Öffentlichkeit im Free TV zugänglich gemacht wurde, passt in ein ungewöhnliches Bild, dass einmal nur das Teilen eines Gemeingutes dem kommerziellen Ausverkauf vorgezogen wird. Freilich wird im Februar nächsten Jahres die Geldmaschinerie mit der DVD-Veröffentlichung trotzdem anlaufen, und niemand sagt, dass dies die letzte käufliche Filmfassung sein wird, aber vorerst steht das Teilhaben an einer gemeinsamen Sache, eine gemeinschaftliche Erinnerung an ein Sommermärchen, das ein halbes Jahr zurückliegt. 10,46 Millionen Menschen nahmen gestern Abend an dieser gemeinschaftlichen Erinnerung teil. Ein Marktanteil von 31 Prozent. Deutschland. Ein Wintermärchen...
Doch etwas ernüchtert ist man nach gut 100 Minuten, denn der Zauber, der schon vor Monaten so jäh verflog, will sich nicht wieder einstellen. Die Welt hat sich weitergedreht, die Wirtschaft ist wieder im Aufschwung und irgendwie scheint es nicht die rechte Zeit zu sein, um alte Geister wieder heraufzubeschwören.
Und mit nüchternen Gedanken lässt sich leider nicht übersehen, dass Wortmann aus dem Mitschnitt von 100 Stunden Material nicht das Optimum herausgeholt hat. Ganz im Gegenteil bietet er eine ziemlich simple Struktur auf, die einzig und alleine von einem Faktor lebt, nämlich von der Exklusivität seiner Bilder.
So bekommt man Einblick in interne Mannschaftssitzungen, die riesigen Gärten der königlichen Absteigen in Berlin, Taktikbesprechungen, Kabinensitzungen - alles Dinge, die der Fan nie zuvor sehen konnte. Öffentliche Bilder werden oft nur über TV-Bildschirme als Bild-im-Bild gezeigt, die eigentlichen Spiele als Zwischenstationen oder Eckpfeiler auf dem linearen Weg ins kleine Finale hinein auf seine Tore reduziert, noch nicht einmal auf alle Tore.
Unglaublicherweise lassen sich aus diesen Zusammenschnitten kaum die Emotionen ziehen, an die man sich so gerne zurückerinnert. Dabei bot das DFB-Team eine für einen Dokumentarfilm perfekte Dramaturgie, wie Wortmann selber auch dankend anmerkt, perfekter noch als es ein glatter Abschluss mit dem Titel gewesen wäre. Denn gerade das Italienspiel mit seinem entsetzlichen Ausgang ist
der emotionale Moment in der Geschichte, den man vom “Costa Rica”-Spiel an fürchtet, zumal der Einstieg mit am Boden zerstörten Spielern in der Kabine beginnt, während irgendwo im Hintergrund aus der TV-Berichterstattung fast nebenbei zu entnehmen ist, dass der spätere Weltmeister soeben den Gastgeber brutal aus dem Wettbewerb geworfen hat.
Abgesehen von diesem unbehaglichen Schauer und einem starken Glücksgefühl beim Elfmeterschießen gegen Argentinien bleibt das Adrenalin aber unten. Wie es im Kino gewesen sein mag, vermag ich nicht zu beurteilen, aber diesmal ist die Magie verloren - aufgrund schwach geschnittener Spielszenen, die zwar zu Recht zum Nebenschauplatz degradiert werden, die man aber dennoch emotionaler hätte gestalten müssen.
Die Mannschaftsinterna, die den Bärenanteil der Doku ausmachen, sind zwar teilweise sehr unterhaltsam (besonders die Jungstürmer Schweinsteiger und Podolski zeigen sich mit besten Entertainmentqualitäten, was darauf hinweist, dass die in den Medien aufbereitete Kumpelhaftigkeit wohl nicht inszeniert war), bringen aber sehr wenig bis gar keine neuen Erkenntnisse. Viele Differenzen wurden wohl außen vor gelassen, um dem Bild eines perfekten Sommers zu entsprechen, die wenigen kritischen Passagen beschränken sich auf Dinge, die man ohnehin schon wusste - etwa, dass sich Jens Lehmann und Oliver Kahn gerne aus dem Weg gehen oder dass Michael Ballack und Torsten Frings sich bei Entscheidungen gerne mal um die Vorherrschaft streiten.
Weshalb Wortmann die Xavier Naidoo-Beschallung so stark in den Vordergrund heben musste, ist mir auch ein Rätsel. Das hat nichts mit Naidoo selbst zu tun, sondern eher damit, dass er doch ziemliche Geschmackssache ist und die hymnische Aufbereitung seiner Songs in der Kabine genau deswegen auf Dauer eher unfreiwillig komisch wirkt als motivierend, weil zumindest ich mir die Frage stellen musste, was ich wohl denken würde, wenn mir der Trainer zur Einstimmung auf den nächsten Gegner Heinos schwarzbraune Haselnuss vorpfeifen würde.
Wobei die motivierenden Ansprachen Klinsmanns ansonsten zu den Highlights dieses Films gehören. Oft herrschte Zweifel über die Rollenaufteilung zwischen dem exzentrischen Trainer und seinem Assistenten Löw, einige Kritiker wollten gar nach Löws erfolgreicher Fortsetzung des neuen deutschen Fußballs gesehen haben, dass eigentlich Löw der alleinige Drahtzieher war und Klinsmann im Grunde nicht viel gemacht habe. Das wird zumindest durch diese Bilder widerlegt, in denen der Ex-Nationalstürmer in jeder Situation die richtigen Worte findet, den Gegner und das bevorstehende Spiel bis auf die Knochen analysiert und alles umwandelt in eine kraftvolle Ansprache. Als besonders imponierend erweist sich der Monolog vor dem Spiel um den dritten Platz, als die Spieler bereits ausgebrannt wirken und Klinsmann das letzte Spiel des Oliver Kahn zum Anlass nimmt, seine Männer noch ein letztes Mal zu Höchstleistungen zu pushen, bevor sie in den wohlverdienten Urlaub entlassen wurden. Und in einer Szene darf selbst Torsten Frings eine durchaus überzeugende Ansprache halten.
Dennoch bleibt trotz dieser kleinen Highlights eine kleine Enttäuschung zurück, wenn man bedenkt, aus welchem Brunnen Sönke Wortmann hier schöpfen konnte und welche Kelle er dafür benutzt hat. Die Exklusivszenen, ein für den Drogentest urinierender Oliver Neuville, ein Miro Klose beim Haareschneiden, viele nackte Spieler in der Umkleidekabine, ein Lukas Podolski im Halbschlaf, sie sprechen freilich für sich und sind ein Vorteil, den jede noch folgende Dokumentation allenfalls noch als Fußnote verwenden darf. Rein handwerklich bleibt “Deutschland. Ein Sommermärchen” aber erschreckend unemotional aufbereitet, ein trotz der Konzentration auf die internen Abläufe unverzeihliches Manko. Ich traue der Dokumentation zwar zu, dass sie mit der Zeit noch reifen und irgendwann als Zeitdokument einmal sehr geschätzt wird, dennoch hat Wortmann hier nur einen kleinen Finger ergriffen, wo man ihm eine ganze Hand anbot.