Entstehungsdaten:
USA / Kanada 2007
Regie:
J.P. Schaefer
Darsteller:
Jared Leto
Lindsay Lohan
Judah Friedlander
Mark Lindsay Chapman
Am achten Dezember 1980 wurde der gefeierte Musiker und Friedensaktivist John Lennon in New York von Mark David Chapman vor dem Eingang des an der Ecke 72nd Street und Central Park West gelegenen Dakota Apartmenthauses erschossen. „Chapter 27“, eine Independent-Produktion, mit der J.P.Schaefer sein Debüt als Autor und Regisseur feiert, beleuchtet die letzten drei zu dieser Tat hinführenden Tage – allerdings rein subjektiv aus Chapman´s Sicht heraus aufgezeigt. Der Titel bezieht sich auf J.D.Salinger´s 1951 verfassten, 26 Kapitel umfassenden Beststeller „the Catcher in the Rye“ („der Fänger im Roggen“), den der Attentäter bei seiner Verhaftung bei sich trug – jener glaubte nämlich, eine reale Verkörperung des literarischen Hauptcharakters des betreffenden Werks (Holden Caulfield) zu sein. Auf der Basis dieser Überzeugung richtete er den damaligen Teil seines Lebens aus, was letztendlich dazu führte, dass er die Worte und Botschaften des Romans auf seine Sicht der Realität übertrug – aus diesem geistigen Konstrukt resultierte schließlich die Inspiration und Motivation für sein unvergessliches Verbrechen.
Am 06.12.1980 landet(e) ein Flieger aus Hawaii in der amerikanischen Ostküsten-Metropole – an Bord der leidenschaftliche „Beatles“-Fan Mark David Chapman (Jared Leto), welcher seine Reise antrat, um dem aktuell gemeinsam mit seiner Frau Yoko Ono und Söhnchen Sean in Manhattan residierenden John Lennon, einem seiner Idole, dichter zu sein. Man könnte fast von einer Art Wallfahrt sprechen, nur wird einem schnell bewusst, dass er im Innern von einer tiefen Zerrissenheit geplagt wird. In einem kostengünstigen YMCA-Zimmer einquartiert, tritt diese dunkle Seite erstmals (für den Zuschauer spürbar) hervor: Das lautstarke Treiben zweier Homosexueller nebenan veranlasst ihn irgendwann dazu, wutentbrannt diese sündige Absteige zu verlassen und in das ungleich noblere Sheraton Center Hotel zu ziehen. Einige Blocks entfernt hält sich täglich eine beständige, aus Fans und Fotographen bestehende Anzahl Personen vorm berühmten Dakota Building auf, die allesamt dem angesehenen Künstler nahe sein wollen, um gegebenenfalls Schnappschüsse, Autogramme oder auch bloß nur einen Blick auf ihn zu erhaschen. Einer von ihnen ist Jude (Lindsay Lohan), welche die von John indossierten Weisheiten zu einem Teil ihres Daseins gemacht hat: Sie und Mark kommen ins Gespräch, und er folgt ihrer Empfehlung, sich das neue Lennon-Album „Double Fantasy“ zu kaufen, das er fortan gerne vom Künstler signiert haben möchte – sofern es ihm denn gelingt, jenem mal zu begegnen. Inzwischen im Besitz einer Pistole sowie Ausgabe des von ihm verehrten Buches „the Catcher in the Rye“, beginnt Mark´s vernebelte Denkweise stärker in eine beunruhigendere Richtung zu tendieren – er ist verwirrt, hin und her gerissen zwischen Wut und Angst vor dem, zu was er fähig ist. Stimmen weisen ihm einen Weg, den er eigentlich nicht entlangschreiten möchte, doch je mehr er über alles nachdenkt, desto klarer stellen sich für ihn die Parallelen zu der Situation im Roman heraus – immer stärker scheint er sich in Caulfield´s Persona zu verlieren. Nach einem Telefonat mit seiner Frau daheim ist ihm seine Bestimmung klar: Er muss John Lennon töten, da dieser zu etwas geworden ist, das er (bzw Holden) im Grunde verabscheut. Die einzige Chance, dies noch abzuwenden, stellt wahrscheinlich Jude dar, in deren Nähe er sich nicht allein und verloren fühlt – aber sein zunehmend merkwürdiges Verhalten lässt auch sie Distanz zu ihm suchen…der Rest ist traurige Geschichte.
„Chapter 27“ musste für seine bewusste Entscheidung, sich nur auf die Präsentation dieses engen, weniger als 36 Stunden umfassenden Zeitfensters zu beschränken, eine Menge Kritik einstecken. Ich persönlich sehe darin absolut kein Problem, denn hätte es wirklich einen so immensen Sinn gemacht, erneut die Kindheit bzw Vorgeschichte eines Mörders aufzuarbeiten, zumal seine kaum von dem klassischen Profil abweicht, in das viele vergleichbare Personen (Serienkiller, Stalker etc) hineinpassen? Chapman hatte Drogenprobleme, dachte gelegentlich an Selbstmord, wurde mal in einer Nervenheilanstalt behandelt, fand zu Gott, verlor diesen Glauben wieder, verehrte die Beatles und nahm sich gar eine Asiatin zur Frau, da sie ihn an Yoko Ono erinnerte. Erwähnung finden diese Punkte (größtenteils), ob nun direkt oder zwischen den Zeilen – sie werden nur halt nicht aufgezeigt. Schaefer geht damit ganz offen um, beispielsweise indem er Mark gleich in den ersten Minuten (per Voice-Over) vermelden lässt: „
The first Thing you probably want to know is all that Stuff about my Dad and what he did to my Mom and me and all – the whole goddamn Childhood. But I´m not gonna tell you any of that Stuff – it just isn´t important. Not anymore…“ Wer weiß, ob ein Beleuchten dieser Punkte auf jener Ebene überhaupt der Realität entsprochen hätte bzw gerecht geworden wäre? Das Publikum erhält vorliegend einen begrenzten Einblick in die Psyche dieses Mannes gewährt, ohne sie erschöpfend auszuloten. Muss man denn immerzu alles erklären – kann man das bei einem psychisch gestörten Individuum eigentlich?
In Form zahlreicher innerer Monologe erhalten wir dennoch einen interessanten und aufschlussreichen Zugang zu seiner Gedankenwelt. „
I believe in Holden Caulfield. And in the Book, and what he was saying – what he was saying to a lost Generation of phony People“, lautet der erste Satz des Films, welcher beide Geschichten (nicht nur im Sinne der Erzählstruktur) miteinander vereinigt. Chapman identifizierte sich mit Caulfield, besonders mit dessen Abscheu gegenüber unaufrichtigen Haltungen und unauthentischen Persönlichkeiten. Er hielt Lennon für einen Heuchler, da dieser Lyriks wie „Imagine no Possesions“ sang, aber Jachten und Luxusappartements besaß – zudem äußerte John bereits 1966, also inmitten Mark´s „religiöser Phase“, den (nicht ganz ernst gemeinten sowie aus dem Kontext gerissenen) Satz „
We are more popular than Jesus now. I don´t know which will go first – Rock`n´Roll or Christianity“. Er wohnte außerdem in just dem Gebäude, in dem Roman Polanski „Rosemary´s Baby“ drehte, dessen hochschwangere Frau (Sharon Tate) im August 1969 von Mitgliedern der mit satanistischen Gemeinschaften in Kontakt stehenden „Manson Family“ bestialisch ermordet wurde – mit Blut schrieben sie im Zuge ihrer Tötungsserie (u.a.) die Worte „Healter Skelter“ an die Wand bzw Kühlschranktür, was eigentlich hätte „Helter Skelter“ heißen sollen, denn der Anführer jener Sekte (Charles Manson) bezeichnete so seine Vision eines kommenden apokalyptischen Rassenkriegs, benannt nach dem gleichnamigen Song der Beatles. All diese irregeleiteten Assoziationen und Ideenfolgen fügten sich in Chapman´s Kopf zu einem Bild zusammen, auf dessen Grundlage er sich zum Handeln gezwungen sah. Ein innerer Kampf entbrannte, ausgefochten und beeinflusst von den allgegenwärtigen Stimmen, denen er nicht entschwinden konnte: Einige drängten ihn dazu, den Plan auszuführen und somit sein vermeintliches Schicksal zu erfüllen, während andere ihm davon abrieten. Er selbst hoffte, dass letztere die Oberhand behalten würden, und suchte verzweifelt nach Ablenkung, um erstere zu unterdrücken – daher bemühte er sich um Gesellschaft, um der Einsamkeit zu entfliehen. Leider erfolglos, wie wir alle wissen. So verfiel er Caulfield irgendwann völlig und löschte mit fünf Schüssen das Leben eines Menschen aus, der sich für den Frieden einsetzte – ein Zustand, den Mark für sich immer herbeigesehnt hatte. Nach der Tat legte er die Waffe auf den Boden und ließ sich widerstandslos verhaften – in den Händen seine „the Catcher in the Rye“-Ausgabe, von der er behauptete, dass in ihr jegliche Antworten zu finden wären.
Hauptdarsteller Jared Leto („Fight Club“/„Alexander“/„American Psycho“), der ebenso als Co-Produzent fungierte, liefert eine absolut brillante Performance ab – er verkörpert Chapman nicht bloß auf eine restlos beeindruckende Weise, er hat sich darüber hinaus förmlich in ihn verwandelt: Um Mark´s (recht fülliges) Aussehen anzunehmen, nahm Leto freiwillig fast 30 Kilo zu, u.a. indem er Haagen Dazs Eincreme in der Mikrowelle erhitze, um es trinkbar zu machen. Zieht man echte Fotos des Schützen vergleichend heran, kann man nahezu keinen Unterschied feststellen – es ist unglaublich, wie ähnlich er seinem „Vorbild“ sieht! Das ganze Verhalten, seine präzise Mimik, die an Capote erinnernde Aussprache – eine perfekte Einheit, angesichts der man fast vergisst, wie Leto eigentlich sonst ausschaut und/oder auftritt. Man könnte den Machern zwar vorwerfen, einige Szenen, in denen er oben ohne auf der Bettkante im Hotelzimmer sitzt, nur eingefügt zu haben, um diese Tatsache jedem mit Nachdruck vor Augen zu führen – müsste das dann aber genauso Christian Bale in „the Machinist“ entgegenhalten. „Chapter 27“ ist seine Show: Er steht im Mittelpunkt jeder Szene, die Kamera weicht ihm grundsätzlich nie von der Seite, seine Stimme führt uns durch den Verlauf – eine außerordentliche Leistung! Alle übrigen Parts sind seinem klar untergeordnet – von der Screen-Time her kann kein anderer Protagonist mehr als (maximal) 8 bis 10 Minuten Leinwandpräsenz vorweisen. Lindsay Lohen („Mean Girls“/„Bobby“/„Georgia Rule“) beweist einmal mehr, dass sie eine sehr talentierte Aktrice ist – was ihre Probleme in der Realität in einem umso traurigeren Licht dastehen lassen. Anhand von Jude´s Interaktionen mit Chapman erkennen wir seine Grenzen, Hemmnisse und Eigenarten im Umgang mit anderen Menschen. Lindsay strahlt von neuem diesen natürlichen Charme aus, für den sie bekannt geworden ist, vereinnahmt so die Figur und vermittelt in Folge dieses Eindrucks glaubhaft das Wesen dieser jungen Dame, welche die Worte ihres Idols verinnerlicht hat und sich auch deshalb auf Konversationen und Treffen mit dem eigenwilligen Fremden einlässt. Beide Stars, die ja ebenfalls relativ talentierte Sänger sind, machen ihre Sache jeweils ausnehmend gut. Lennon taucht nur an zwei Stellen kurz auf und wird ausschließlich unscharf ins Bild gerückt – gespielt wird er von einem Mann, der ernsthaft (!) Mark Chapman (!) heißt und zuvor (u.a.) in TV´s „Swamp Thing“ oder Stephen King´s „the Langoliers“ auftrat. Judah Friedlander („Feast“/„Cabin Fever 2“) tritt als Paparazzi in Erscheinung, der das berühmte Foto schoss, dass John zeigt, wie er auf dem Weg zum Studio das Album seines zukünftigen Mörders signiert, dem er bei seiner späteren Rückkehr an jenem Abend zum Opfer fiel…
Ich selbst habe mich nie näher mit der hier thematisierten Materie beschäftigt. Klar wusste ich, dass, wann und von wem Lennon erschossen wurde – nur waren mir die zum Vorschein gebrachten, so erstaunlich interessanten Hintergründe in dieser Form keineswegs bekannt: Etwa der zuletzt erwähnte Schnappschuss, dass Chapman am Nachmittag vor der Tat den jungen Sean (in Begleitung seiner Tagesmutter) im Central Park traf und sogar einige Worte mit dem Kind wechselte, die ganze Verbindung zu Salinger´s Klassiker, inklusive der existierenden Verschwörungstheorien (siehe u.a. Richard Donner´s „Conspiracy Theory“), oder wie sich alles im Kopf des Schützen zusammensetzte, bis hin zu speziellen kleinen Details (z.B. ergänzte Mark in seiner Bibel die Kapitelüberschrift „the Gospel according to John“ um das Wort „Lennon“). Inspiriert von dem Gesehenen, begab ich mich umgehend ans Recherchieren weiterer Infos – schon allein für diesen Impuls hat sich das Sichten definitiv gelohnt. Auf der Basis der historisch dokumentierten Fakten sowie der Biographie „Let me take you down“, verfasst von Jack Jones, konzipierte Schaefer sein Skript, welches Fachkundigen keine Offenbarungen liefern dürfte – im Gegensatz zum Rest, der sich vermutlich eher (und ausführlicher) an die Umstände der Ableben von Tupac Shakur oder Kurt Cobain erinnert. Aus der dominierenden Perspektive Chapmans heraus werden die Begebenheiten akkurat beleuchtet – nur gelegentlich erweitern bestimmte Gesprächsinhalte das subjektiv anmutende Bild. Das gebotene Tempo ist sehr ruhig, denn hauptsächlich sieht man ihn nur, wie er in seinem Hotelzimmer hockt oder vorm Dakota steht, immerzu begleitet von der Präsenz seiner zu hörenden Gedanken – nicht sonderlich aufregend für jemanden, der schnell geschnittene, moderne Filme gewöhnt ist, in denen ständig etwas passiert. Sich dieser vorsätzlichen, mich im Übrigen nie störenden Gegebenheit wohl bewusst, konnte sich Schaefer einen geschickten kleinen Seitenhieb nicht verkneifen: Jude mag „Rosemary´s Baby“ nicht, und zwar „because it´s slow moving and nothing happens till the End“…
Als Regisseur liefert Schaefer ein kompetentes Debüt ab. Nur kurz werden Dokumentaraufnahmen eingespielt (Auszüge der Pressekonferenz nach der Verhaftung sowie einige Bilder der öffentlichen Trauerfeier, welche eher wie ein Happening wirkt), ansonsten verlässt sich der Regisseur vollkommen auf seinen fokussierten Ansatz, den seine Kollegen Tom Richmond („the Singing Detective“) und Anthony Marinelli („Sublime“) in Gestalt ihrer hochkarätigen Leistungen äußerst dienlich unterstützen: Richmond´s düster-schlichte Kameraarbeit wird von Marinelli´s klangvoll-subtilen Score optimal hin zu einer bedrückend unheilschwangeren Atmosphäre vervollständigt. Die eingefangenen Impressionen der kühlen New Yorker Dezembertage unterstreichen zusätzlich das Gefühl der Isolation, Anonymität und Einsamkeit – nicht nur deshalb erinnert das Werk vereinzelt an Scorsese´s „Taxi Driver“, allerdings ohne letztendlich dessen Tiefe, Intensität und/oder Qualität zu erreichen. Nun gut, das hat gewiss auch keiner erwartet – und trotzdem stand diese Produktion von Anfang an im Kreuzfeuer der Kritik: Angesichts der Vorstellung, der Mörder ihres Idols könnte auf irgendeine Weise mit Sympathie oder Mitleid versehen werden, liefen viele hartgesottene Lennon-Fans Sturm, riefen zum Boykott auf und ließen im Zuge dessen ihren verqueren Gedanken freien Lauf (u.a. auf der Website Boycottchapter27.org). Augenfällig ist dabei vor allem, dass die meisten jener Leute das Objekt ihres Missmuts noch gar nicht selbst gesichtet haben, stattdessen einfach nur blind auf den führerlosen Zug aufgesprungen sind – sonst hätten sie nämlich schon lange erkannt bzw erkennen müssen, dass „Chapter 27“ genau die richtigen Töne trifft: Der Ansatz des Films ist fern von reißerisch oder sensationslüstern, behandelt das Andenken an John Lennon stets mit Respekt und arbeitet die Geschehnisse keinesfalls plakativ, sondern um Sachlichkeit bemüht auf – nicht einmal die Tötung wird direkt aufgezeigt, sondern vollzieht sich off Screen. Bis heute sitzt Mark David Chapman noch immer hinter Gittern. Er hat inzwischen wieder zu seinem Glauben gefunden. Seit 2001 besteht die rechtliche Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung – bislang wurden alle betreffenden Anträge jedoch abgelehnt…
Fazit: „Chapter 27“ ist eine sehr ruhige, stimmige sowie hervorragend gespielte Charakterstudie, die zwar keine umfassenden, mit Fakten untermauerten Antworten auf die Frage „
Why?“ zu präsentieren vermag, dem Betrachter aber dennoch einen interessanten (Teil-) Einblick in die Psyche eines geistig verwirrten Mannes gewährt, welcher der Welt einen der größten Künstler des 20.Jahrhunderts raubte…