Entstehungsdaten:
USA 2023
Regie:
Tina Satter
Darsteller:
Sydney Sweeney
Josh Hamilton
Marchánt Davis
Trailer
"I wasn't trying to be a Snowden or anything..."
Reality Winner. Welch ein Name – und das nicht bloß im Kontext dieses mehrdeutig betitelten Films betrachtet, bei dem die Haupt-Protagonistin so heißt. Darauf gekommen, eben jene so zu nennen, ist nicht etwa ein pfiffiger Drehbuch-Autor – sondern Ronald Winner, ihr Vater; denn Reality Leigh Winner gibt es wirklich. Am 4. Dezember 1991 in Alice, Texas geboren, trat sie nach ihrer Schulzeit der Air Force bei und wurde dort zu einer Farsi, Dari und Pashtu beherrschenden erfolgreichen Linguistin und Sprach-Analystin – "Top Secret"-Freigabe inklusive. Letztere blieb auch über ihre ehrenhafte Entlassung im November 2016 hinaus bestehen. Ihr Wunsch war es, einen Job bei einer Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) in Afghanistan zu bekommen – was sich jedoch schwieriger als gedacht gestaltete. Daher nahm sie erst einmal Beschäftigungen als Trainerin in einer CrossFit-Box und einem Yoga-Studio auf – bevor sie am 13. Februar 2017 dann in ihrem beim Militär erlernten Fach-Bereich bei einem mit der National Security Agency (NSA) kooperierenden Informations-Dienstleister einstieg…
Knapp vier Monate später wurde Reality verhaftet. Der Vorwurf: Sie hätte ein als "geheim" eingestuftes Dokument (über russische Einflussnahme-Bemühungen auf den Präsidentschafts-Wahlkampf 2016) an eine Nachrichten-Website weitergeleitet – welches jene am 05. Juni 2017 veröffentlichte. Unter dem "Espionage Act" angeklagt, bekannte sie sich in Juni 2018 schuldig – wonach ein Gericht sie am 23. August schließlich zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilte: Die höchste bis dato vergebene Strafe für ein solches Vergehen. Unter der Auflage des Tragens einer elektronischen Fußfessel Mitte 2021 vorzeitig entlassen, läuft ihre Bewährungsdauer noch bis November 2024. Im Rahmen des Prozesses wurde damals das Protokoll zweier Audio-Aufzeichnungen der FBI-Beamten frei zugänglich, die am 03. Juni 2017 die Durchsuchung ihres Hauses sowie eine direkt damit verbundene Befragung durchführten – woraus Tina Satter 2019 das Theater-Stück "Is this a Room" kreierte, welches es von einer kleinen New Yorker Location gar bis an den Broadway schaffte…
Im Folgenden verfasste Satter zusammen mit James Paul Dallas auf dieser Basis ein ebenfalls fast komplett nur auf diese Stunden fokussiertes, Kammerspiel-haft geartetes Skript, sicherte sich eine ausreichende Finanzierung, drehte mit ihrer Cast&Crew 16 Tage lang im Mai 2022 und vermochte der Öffentlichkeit ihr Feature-Film-Regiedebüt erstmalig dann Anfang 2023 (auf der 73. "Berlinale") zu präsentieren. Wie schon bei der Bühnen-Version wurden auch bei "Reality" alle Dialoge 1:1 der Original-Aufnahmen bzw. der entsprechenden Umschriften entnommen. Bis auf eine Reihe flüchtiger Einblendungen sowie eines kurzen Prologs, der Reality (Sidney Sweeney) an ihrem Schreibtisch in einem Cubicle-Büro ihres Arbeitgebers sitzend zeigt – mit der Berichterstattung zu Donald Trump´s Feuern von FBI-Chef James Comey gerade bei "Fox News" auf mehreren TV-Wandmonitoren zu sehen – entfaltet sich das gesamte Geschehen in und um Reality´s Haus in einem typischen Mittelklasse-Wohnviertel in Augusta, Georgia, in welchem sie allein mit ihrem Hund und ihrer Katze lebt…
Als Reality eines Sommertags vom Einkaufen zurückkommt, wird sie in ihrer Einfahrt von zwei FBI-Beamten empfangen: Garrick (Josh Hamilton) und Taylor (Marchánt Davis). "In Zivil" gekleidet, weisen sie sich ihr gegenüber aus und unterrichten sie darüber, dass sie einen Durchsuchungs-Beschluss für ihr Auto, ihr Handy und ihr Haus haben. Sie sind freundlich und unterhalten sich eingangs mit ihr im Vorgarten über so einige ganz allgemeine Themen – á la die Nachbarschaft sowie Reality´s Sport (bspw. erwähnt sie, Gewichte zu stemmen und für einen Wettkampf zu trainieren, worauf Garrick gesteht, dass er CrossFit mal ausprobiert, es aber rasch wieder aufgegeben hätte). Zwischendurch stellen sie ihr jedoch auch immer wieder gezielte Fragen – u.a. ob noch jemand im Haus wäre oder sie Waffen besitzen würde: Nein und ja – eine 9mm Glock, ein 15-Gauge sowie ein pinkes AR-15-Gewehr. Sie lassen ihr die Wahl, ob sie vor Ort oder im FBI-Office miteinander reden, und betonen die "Freiwilligkeit" ihrer Aussagen – wobei sie ihr allerdings nicht konkret ihre "Miranda Rights" darlegen…
Ein Faktor beim Anschauen des Films ist es, wie viel man als Betrachter bereits über den Fall an sich weiß. Wenn das nur wenig ist, steigert das die Spannung natürlich – etwa angesichts dessen, dass der Reality angelastete Vorwurf längere Zeit überhaupt nicht klar benannt wird – während es für all jene, die über Kenntnisse bezüglich des Sachverhalts verfügen, umso reizvoller ist, aus genau der Perspektive heraus auf spezielle damit verknüpfte Angaben und Reaktionen der Beteiligten zu achten. Über das Auftauchen der Männer wirkt Reality keineswegs verdutzt oder verunsichert. Sie erkundigt sich weder nach dem Grund dafür noch nach der Notwendigkeit eines Anwalts – ist kooperativ und scheint sich vor allem Gedanken um ihre Tiere zu machen. Ihr Hund "würde Männer nicht mögen", erklärt sie – worauf sie die Erlaubnis erhält, ihn in eine Umzäunung im Hof zu bringen. Ihre Katze flüchtet derweil unters Bett – und Reality sorgt sich darum, sie könnte aus der geöffneten Vordertür ausbüxen. Also gibt man ihr regelmäßig Rückmeldungen dazu – bis sie sie einfangen und anleinen darf…
Garrick und Taylor gehen deeskalierend-zugewandt auf sie ein – beinahe ungewohnt stark für US-Verhältnisse – muten beim Betreiben von Smalltalk mitunter aber leicht unbeholfen an. Bei plötzlichen Bewegungen Realitys – z.B. als sie Geräusche von einem nicht einsehbaren Bereich des Hauses her hört und instinktiv ein/zwei Schritte in jene Richtung ausführt – verbleibt einem die "Alarm-Bereitschaft" der beiden jedoch nicht unverborgen. Trotz der Unruhe der Situation ist Reality nie abweisend. Garrick und Taylor sind für sie zuständig – wogegen sich andere um die Suche nach "Verwertbarem" kümmern (alles fotografieren, die Waffen sowie etwaige Notizen und elektronische Geräte sicherstellen etc.). Spätestens als man ihr gestattet, ihre Einkäufe aus dem Wagen in die Küche zu bringen, sollte dem Publikum auffallen, dass ausschließlich Männer dort im Einsatz sind: Neben dem ohnehin schon vorhandenen Machtgefälle eine sicher nicht unkalkulierte Taktik. Erst zum Ende hin, als Reality vor ihrer Mitnahme abgetastet wird, tritt eine weibliche Beamtin in Erscheinung…
Mit den Tieren "gesichert" und den verderblichen Lebensmitteln im Kühlschrank, ziehen sich Taylor, Garrick und Reality in ein von ihr nicht genutztes unmöbliertes Hinterzimmer zurück, welches sie ihnen für die Befragung "anbietet". Sie lehnt das Angebot ab, dass man ihr einen Stuhl zum Sitzen herbeiholt – und entschuldigt sich mehrfach für den Zustand des ungeputzten (weil ja leerstehenden) Raumes. Nun beginnt das eigentliche Verhör: Auf alles Vorgebrachte geht sie stets beantwortend oder zumindest schildernd ein – doch führt sie zielgerichtetes Nachhaken fortan zunehmend in Bedrängnis. Der begrenzte Platz sowie die komplette Dynamik der Konstellation und Lage erzeugt Anspannung – bei den Protagonisten ebenso wie auf Seiten des Zuschauers – wozu neben dem unaufdringlichen, passend gearteten Score Nathan Micays ("Time Bomb Y2K") die von Cinematographer Paul Yee ("the Stranger") clever gewählten Kamera-Winkel sowie selbst kleinste Veränderungen in der Mimik preisgebenden Close-ups ein zusätzliches, effektives Stück beisteuern…
In der Titel-Rolle ist Sydney Sweeney ("the Voyeurs") schlichtweg perfekt – auf welche sie sich u.a. per Ansehen von Interviews mit der echten Reality sowie auch mit eigenen Videocalls mit ihr vorbreitet hatte. Sie studierte ihre Manierismen und nutzte zum Muskel-Aufbau mitunter Übungen, die Winner selbst einst auf ihrem Instagram-Account gepostet hatte. Es ist eine präzise, komplexe, eine authentische Impression vermittelnde Performance des mit Talent und Schönheit gesegneten, hier glaubwürdig "natürlich-alltäglich" in Sachen Outfit und Look auftretenden Stars aus solch tollen Serien wie "the Handmaid´s Tale", "Sharp Objects", "the White Lotus" und "Euphoria". Während sich Garrick Reality gegenüber freundlich, tendenziell "kumpelhaft" gibt, ist sein Partner indes ernster und weniger gesprächig – ähnlich wie ein anderer, von Benny Elledge ("Kringle Time") gespielter Agent, in dessen Gebaren eine gewisse "Herabwürdigung" mitschwingt. Überdies verleiht die "Durchtrainiertheit" Taylors ihm im Vergleich zu Garrick unweigerlich eine als "einschüchternder" beschreibbare Empfindung…
Josh Hamilton ("Dark Skies") und Marchánt Davis ("Tuscaloosa") portraitieren die zwei Einsatz-Leiter rundum überzeugend. Ist Garrick´s "Nice-Guy-Persona" bloß eine professionelle Methode – oder ist er tatsächlich so? Und wenn ersteres der Fall sein sollte – erkennt Reality das? Hat sie Angst – oder glaubt sie wirklich daran, argumentativ aus der Angelegenheit noch rauskommen zu können? Schrittweise wird immer evidenter, dass das FBI auf keiner "Fishing Expedition" ist: Im Hinblick auf das ihr Vorgeworfene geht es primär um das Warum? – nicht ob sie es getan hat. Es ist die Kombination aus den darstellerischen Leistungen (zu denen auch die Körperhaltungen zählen) mit den realen Worten und Artikulationen sowie der speziellen Inszenierung Satters, was die zugehörige Entwicklung dermaßen "packend" mitzuverfolgen macht – welche wir ja Moment für Moment (in diesen Phasen der knapp 80-minütigen Laufdauer "in Echtzeit") begleiten. Der auf Reality einwirkende Druck erhöht sich im Zuge dessen kontinuierlich: Schon bald fängt sie Nerven zu zeigen an und gerät anwachsend in die Defensive…
Als Regisseurin beweist Satter auch in diesem Medium Können – transportiert die Intensität und "Intimität" der Vernehmung Film-spezifisch effektiv; und das mit den Charakteren und deren Kommunikation unentwegt im Fokus. Es ist faszinierend, dass alles Gesagte nicht etwa den wiederholt überarbeiteten Gedanken eines Autors entstammt, sondern "spontan" damals faktisch so geäußert wurde. Zwar mag manches wie aus einem Drehbuch anmutend klingen – wie z.B. eine doppelbödig auslegbare, sich um Reality´s angegebenes Gewicht rankende Passage – doch sind Unterschiede zu klassisch geskriptetem Material registrierbar: U.a. lassen sich "holprige" Formulierungen, Verhaspelungen, Husten und eigenwillige Pausen verzeichnen – sorgsam platzierte "Auflockerungen", zusätzliche Kontext-Infos oder einem bestimmten "zugespitzt-dramatischen Zweck" dienende Kundgaben dagegen nicht. Neben dem jeweiligen "physischen Betragen" gewährt es einem dieses "unabgewandelt-rohe Verbale" ergiebig, individuelle Ansichten bezüglich dieser einem präsentierten Menschen zu formen…
Die Tatsachen-Treue erstreckt sich sogar so weit, dass die Sätze, die im offiziellen Protokoll geschwärzt bzw. redigiert wurden, ebenfalls entsprechend ausgelassen werden: An jenen Stellen verschwindet punktuell der- oder diejenige einfach, flackert das Bild, setzt der Ton aus und/oder wird beides verfremdet. Das verleiht den ansonsten nüchtern dargebotenen Geschehnissen dann immerzu einen "surrealen Touch" – fast so, als hätte jemand im Vorhinein der Veröffentlichung am Footage noch die betreffenden Zensierungen vorgenommen. In Gestalt von Einblendungen liefert Satter jedoch Andeutungen und Hinweise, die dem Publikum beim Füllen dieser "Lücken" helfen – worüber hinaus verschiedene Original-Quellen unterstützend und belegend mit eingebunden wurden – unter ihnen Behörden-Papiere, Audio-Dateien sowie private (nicht mit Sweeney nachgestellte) Fotos von Winner. Das sorgt für zusätzliche Abwechslung und reichert das von Natur aus eher "trockene" Verhör simultan auch sich auf jenem Wege ersprießlich weiter von einer "Theater/Bühnen-Produktion" abhebend an…
Satter´s Werk ist ambivalent; nicht unbedingt objektiv – der unverfälschten Dialoge zum Trotz. Fraglos hat Reality eine Straftat begangen, deren Ausmaß im Bereich ihres Gefahren-Potentials nicht konkret zu erfassen bzw. zu benennen ist – allerdings verteidigt der Film ihre Entscheidung, dieses vertrauliche Dokument zu leaken, mehr oder minder direkt. Während die eigene Regierung über die entdeckten "Wahlkampf-Sabotage-Angriffe auf die Demokratie" schwieg, hielt sie es (inmitten all der ohnehin zuhauf zirkulierenden Missinformationen) für ihre Verantwortung, die Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen. Die politische Dimension des Falles wird zum Schluss hin deutlich – gepaart mit Clip-Einblendungen u.a. entrüsteter Republikaner (á la "Fox News"-Moderatoren) vs. Journalisten, die ihr beipflichten. Unabhängig der Medien-Kritik sowie des Anprangerns fehlender Transparenz der Geheimdienste und Amtsträger ist "Reality" vor allem aber eins – nämlich ein nicht bloß konzeptionell und stilistisch feines True-Life-Drama mit einer hervorragenden Sydney Sweeney…
"I knew it was secret.
But I also knew I had pledged service to the American people."
starke