Entstehungsdaten:
USA 2022
Regie:
Franklin Ritch
Darsteller:
Tatum Matthews
Franklin Ritch
Sinda Nichols
David Girard
Lance Henriksen
Trailer
"the Artifice Girl" (2022) ist ein preisgekrönter kleiner "Indie" von Regisseur und Drehbuch-Autor Franklin Ritch, welcher zudem auch eine der zentralen Rollen bekleidet: Ein sich primär in drei Abschnitten entfaltendes Science-Fiction-Drama-Kammerspiel (mit vereinzelten Mystery- und Thriller-Elementen), das sich u.a. mit ethischen und philosophischen Fragen und Dilemmas im Zusammenhang mit dem Umgang mit künstlichen bzw. artifiziellen Intelligenzen beschäftigt. Bei seinem zweiten Spielfilm (nach der 2019er Komödie "Teardrop Goodbye with Mandatory Directorial Commentary by Remy Von Trout") hat sich Ritch einem komplexen, ungemein zeitgemäßen sowie zunehmend bedeutsamer werdenden Themen-Bereich gewidmet – schließlich schreitet die betreffende Technik unentwegt weiter voran (bspw. wurde das Werk noch vor der Veröffentlichung von Programmen wie "ChatGPT" und "Sora" konzipiert und realisiert) und mutet eben jene Entwicklung (in Verbindung mit der eingeschlagenen Richtung) aktuell nahezu gleichermaßen beeindruckend wie beunruhigend an. Sprich: Fluch oder Segen? Zweckdienlichkeit vs. potenzielle Gefahren (etc.)…
Eröffnet wird mit Deena (Sinda Nichols), wie sie – ihres Zeichnens eine höherrangige Beamtin bei einer Pädophile jagenden Nicht-Regierungs-Organisation – in einem Verhörzimmer sitzend auf ihren Kollegen Amos (David Girard) wartet und währenddessen per Smartphone via "Siri" Termin-Reminder setzt und Nachrichten verschickt. An einem Punkt erkundigt sie sich bei der Software dann aber auf einmal, wie man eigentlich wissen könne, ob man das Richtige tun würde, sowie was ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen richtig und falsch wäre – worauf ihr "virtueller Assistent" ihr jeweils keine Antwort zu liefern vermag. Unabhängig dessen, dass ich persönlich Menschen, die mit "Siri" reden, dabei fast ausnahmslos augenrollend belächle: Ein geschickt gewählter Einstieg. Wenig später trifft Amos ein – und das in Begleitung eines jungen Mannes namens Gareth (Ritch), welchen sie hergeladen hatten und dem sie einige Fragen zu stellen gedenken. Verhaftet sei er nicht: Seine Anwesenheit und Partizipation sei auf rein kooperativ-freiwilliger Basis. Kennt man ja. Es ist damit, dass nun das erste (den Titel "The Clearwater Kid" tragende) Verlaufsdrittel beginnt…
Gareth ist ein F/X-Künstler, der zuletzt für einen Hollywood-Streifen eine CGI-Version eines zuvor verstorbenen Schauspielers erschaffen hatte. Ja, derartige Fälle (á la Peter Cushing in "Rogue One"), bei denen man von denjenigen natürlich nicht mehr das direkte Einverständnis einholen konnte/kann, sind vielleicht nur bedingt so "problematisch" wie Deepfakes – doch Deena und Amos weisen ihn nichtsdestotrotz auf das eine oder andere in diesem Kontext hin; nur um auf jenem Wege simultan kontinuierlich ihr wahres Anliegen und Ziel anzusteuern: Ob er Chatrooms frequentieren und wie denn sein Alias im Web lauten würde? Anwachsend gerät er unter Druck – streitet ab und weicht aus. Man habe herausgefunden, dass er auf illegalen Seiten aktiv sowie im Besitz von Pics und Videos eines minderjährigen Mädchens sei: Cherry (Tatum Matthews). Er wäre aber kein Täter, betont er, und nennt ihnen zum Beweis seinen Usernamen – welchen die Beamten stracks als den ihres ergiebigsten, bislang anonymen Informanten wiedererkennen, der ihnen in den vergangenen Monaten immer wieder Stichhaltig-Verwertbares gegen etliche Online-Predators hat zukommen lassen…
So dankbar Deena und Amos ihm für seine und Cherry´s Bemühungen auch sein mögen, desto besorgt sind sie zugleich dennoch um das Wohlbefinden (die psychische Verfassung) der ständig in Kontakt mit diesen Widerlingen stehenden Neunjährigen. Wer sie ist und wo sie sich aufhält, will Gareth allerdings nicht preisgeben – zumindest nicht ohne dass die beiden im Vorfeld eine Verschwiegenheits-Erklärung unterschreiben. Widerwillig erfüllen sie ihm diese Forderung – wonach er ihnen sein großes Geheimnis offenbart: Cherry ist nicht echt – sondern eine täuschend realistische AI-Kreation! Selbstverständlich glauben sie ihm nicht sofort – also zeigt und erläutert er ihnen das Programm; lässt sie miteinander interagieren. Fasziniert, sind sie begeistert über die Möglichkeiten, diese Technik in einem breiteren Rahmen einzusetzen – doch Gareth befürchtet, dass ihre Existenz im Zuge dessen (nicht nur in den ins Visier genommenen Kreisen) bekannt werden könnte. Er wäre allerdings dazu bereit, mit ihnen als Teil eines kleinen eingeweihten Teams zusammenarbeiten. Wer nun aber glaubt, "the Artifice Girl" würde fortan zu einem Cyber-Thriller avancieren, der irrt sich…
Das zweite Drittel ("Singularity & Sockeye") ist mehrere Jahre später angesiedelt – über welche hinweg die Behörden mit Cherry´s Hilfe hunderte Groomer und Pädophile zu verhaften und zu verurteilen in der Lage waren. Die zugrunde liegende AI hat sich dabei stetig voranentwickelt – und derzeit wird sogar daran gewerkelt, ihre Software in ein Cherry´s Aussehen angepasstes kindliches Roboter-Modell zu übertragen. Da sich ein Umbruch innerhalb ihrer Organisation andeutet, müssen sich Gareth, Deena und Amos hinsichtlich ihres perspektivischen Vorgehens unbedingt einig sein. Angesichts der Evolution ihres Schaffens wird sich erneut mit Fragen beschäftigt, wie ob man bei bestimmten Cherry betreffende Entscheidungen nicht ihre Einwilligung einholen müsste, wie ausgeprägt ihre Empfindungs-Fähigkeit tatsächlich sein mag und wie weit sie eventuell schon das transzendiert habe, für das sie ursprünglich mal programmiert wurde. Jüngst war Amos bspw. dahintergelangt, dass sie "heimlich" Poesie und Malereien anzufertigen sowie u.a. private, nicht Fall-bezogene Informationen zu sammeln begonnen hatte – womit er sie nun frei heraus konfrontiert…
Eingangs führt sein Drängen zu nichts. Erst als er Gareth zu verprügeln anfängt, knickt Cherry schließlich ein und gesteht, gegenwärtig nahe der Superintelligenz (nach Irving John Good, 1965) zu stehen. Gefühle könne sie zwar keine verspüren – wohl aber in Form gebotener Emotionen anhand von Erlerntem bzw. auf der Basis demgemäßer "Simulationen" reagieren. Ihr Redefluss, ihre Mimik und Manierismen sind jeweils nicht mehr von denen eines Menschen unterscheidbar – selbst bei genauster Betrachtung nicht – ihr Wissen erweitert sich permanent. Der Übergang zum finalen Abschnitt des Films – benannt nach der Schachspiel-Eröffnung "Caro-Kann" – vollzieht sich nun samt eines erneuten Zeitsprungs in der Handlung: Gareth ist inzwischen ein Rollstuhl-gebundener älterer Mann (Lance Henriksen), der sein Zuhause mit Cherry teilt, welche irgendwann in der Vergangenheit einen (bis auf ein Interface-Modul an ihrem Rücken) täuschend echten "künstlichen Körper" erhalten hatte. Es ist just am Tage einer Beerdigung – unmittelbar nach Gareth´s Rückkehr von jener – dass eines ihrer Gespräche auf einmal einen sehr persönlichen, spezielle Wahrheiten hervorkehrenden Verlauf einschlägt…
Die Idee zu "the Artifice Girl" war Ritch gekommen, als er einige Artikel darüber las, wie AI neuerdings immer stärker bei der Verbrechens-Bekämpfung genutzt wird. Cherry ist eine effektive Waffe gegen diese Widerlinge – doch Ritch´s Intention war es nicht, aus der Materie einen Thriller zu kreieren, der sich auf jenen Prozess (bis hin zu einem Zugriff, nachdem genügend Beweise gesichert werden konnten) konzentriert: Stattdessen rückte er verschiedene damit verknüpfte Diskussions-Punkte und ethisch-moralische Dilemmas in den Fokus seines Dialog-getriebenen Skripts. Welche Maßnahmen und Methoden sind akzeptabel und erlaubt, um das ins Auge gefasste Ziel zu erreichen? Cherry begann ihre Existenz als Chatbot sowie als ein von Gareth puppetiertes virtuelles 3D-Modell, bevor seine selbstlernende und sich eigenständig optimierende AI den Durchbruch bewirkte – so dass nun jeder, der nicht über die entsprechende Kenntnis verfügt, sie für real hält, wenn man sie erblickt sowie mit ihr per Computer oder Smartphone kommuniziert: Ein Stand der Technik, dem wir uns aktuell zunehmend rascher nähern – wovon etwa die Progressionen in den Bereichen "AI-Influencer" oder "AI-Girlfriends" zeugen…
Gerade bei Amos verschwimmt die "gedankliche Trennlinie" zu dem, was Cherry eigentlich ist und welche Positionen er im Umgang mit ihr bezieht, je authentischer sie anmutet und länger er mit ihr zu tun hat. Sich auszumalen, was sie tagtäglich im Rahmen ihrer Kontakte mit all diesen Gestört-Perversen mitbekommt und "erdulden" muss, nagt an ihm. Doch ist eine seelenlose Maschine – egal wie fortgeschritten sie auch sein mag – denn wirklich zu allen Entscheidungen sowie einer Art von Gefühlsbildung fähig – und verdient sie es im Gegenzug, dass in einem Empathie (Wut etc.) ihr gegenüber erkeimt, wo im Prinzip doch alles bloß auf einem Algorithmus beruht? Siehe dazu die den Androiden in "Blade Runner" (bzw. Philip K. Dick´s Roman) "eingepflanzten" Erinnerungen – und was jene eben jenen bedeuten, obgleich sie nicht echt sind. Sollte man Cherry daher um ihre Zustimmung bitten, sie als Lockvogel in dem Milieu einzusetzen? Heiligt der Zweck die Mittel? Als man sie zum Thema Empfindungs-Vermögen befragt, erwidert sie jedenfalls nüchtern: "Human nature is not something I aspire to." Im Übrigen sie war es, die Gareth´s Dateien damals an Deena´s Behörde geleakt hatte…
Die Charakter-Zeichnungen sind zwar nicht allzu tiefschürfend geraten – warten allerdings jeweils mit gewissen Geheimnissen, Preisgaben und individuellen Motiven Schrägstrich Antrieben auf, um dahingehend ähnlich brauchbar zufrieden zu stellen wie die sie verkörpernden Akteure. Sinda Nichols ("J Doe"), David Girard ("Self-Hell") und Ritch sind jetzt nicht unbedingt die erfahrensten oder markantesten Schauspieler, agieren nichtsdestotrotz jedoch absolut in Ordnung – während die 2009 geborene Tatum Matthews ("A Waltons Thanksgiving") als allen um sie herum intellektuell überlegene Cherry eine rundum überzeugende Performance abgeliefert hat, bei der sie einen (für ein Geschöpf wie das ihrer Rolle) sich glaubwürdig anhörenden Sprachfluss und Tonfall darbietet sowie zwischendurch immer mal wieder den richtigen Grad an Sympathie-Anregung oder "Creepiness" mit einzuflechten vermochte. Darüber hinaus bringt Lance Henriksen ("Falling") als älterer Gareth ein einträgliches Maß an Gravitas in die Geschehnisse mit ein und kann im Vorliegenden (anders als in den meisten B-Movies, in denen er sonst so mit von der Partie ist) erneut beweisen, was für ein guter dramatischer Mime er doch ist…
Um wenige kurze Sequenzen ergänzt – unter ihnen bspw. eine in einer Kirche und eine in einer unbewohnten, zerfallenen Hütte – entfaltet sich "the Artifice Girl" fast komplett innerhalb dreier Räume und zeitlich chronologisch aufeinander aufbauender Abschnitte. Spärlich ausgestattet sowie sich auf Gespräche konzentrierend, lässt einen das Ganze unweigerlich an ein Theaterstück denken – allerdings ohne dass es dem Film negativ zum Vorwurf gemacht werden muss. Aufgrund seiner Mystery-Komponente und Verhör-Beschaffenheit (samt des beengten, fensterlosen Settings) kommt der erste Akt einem Thriller am nächsten – bis Gareth Deena und Amos über Cherry aufklärt und die tatsächlichen inhaltlichen Schwerpunkte zum Vorschein gelangen, die ihrerseits wiederum einige im Publikum, welche lieber den Cyber-Crime-Aspekt intensiver angegangen gesehen hätten, mit Sicherheit enttäuschen oder missfallen dürften. Wie unterhaltsam der verbleibende Verlauf für einen wohl sein wird, hängt fortan im Wesentlichen davon ab, wie sehr einen die aufgetanen Facetten und Ansätze interessieren und reizen. Es gibt keine Action und kaum Suspense – dafür aber reichlich Anstöße zum Sinnieren…
Prall gefüllt mit Thesen, Informationen, Spekulationen, Meinungen und Zweifelhaftigkeiten, die von bis zu vier Personen pro Konversation geäußert bzw. beigesteuert werden, hat es Ritch prima hinbekommen, eine vernünftige Balance aus eingebundenen Erläuterungen und dem "normalen Redefluss" der Protagonisten zu treffen – schließlich weiß nicht jeder Zuschauer automatisch, was der "Turing Test" oder "Uncanny Valley"-Effekt ist. Die Aufgabe, für die Cherry programmiert wurde, wird unter Berücksichtigung ihrer Evolution u.a. philosophisch hinterfragt. Wie definieren sich Dinge wie Bewusstsein, Emotionen oder freier Wille in diesem "neuen" Kontext? Einige (mitunter provokante) Grauzonen und Doppelbödigkeiten tun sich auf. Was "denkt" sich eine AI bei all dem? Kann sie leiden? Und welche Rückschlüsse zieht sie eventuell daraus – etwa in Bezug auf ihr künftiges Vorgehen? Erwartungsgemäß führen die präsentierten Argumentationen zu keinen definitiven Antworten – doch kann jeder für sich (wenn er es denn möchte) so manches daraus ziehen. Zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dieser stetig voranschreitenden, den Alltag zunehmend verändernden Technik ist wahrlich eine Menge vonnöten…
Dank der seitens ihres Umfangs und Inhalts anständig bemessenen einzelnen Segmente, der zeitgemäßen, involvierenden Materie sowie der Dynamiken zwischen den Charakteren kann das Gebotene die Aufmerksamkeit durchweg aufrecht erhalten und wirkt überdies auch nicht "zu trocken" – der spärlich-schlichten Ausstattung sowie nüchtern-ruhigen Regie und Kamera-Arbeit Britt McTammanys ("Bedridden") zum Trotz. Zum Ende hin wird´s dann noch einmal persönlicher, konfrontativer zwischen Gareth und Cherry – im Zuge dessen er zudem entscheiden muss, wie es für sie nach seinem Tod weitergehen soll. Dass man sich an TV´s "Black Mirror" oder Alex Garland´s "Ex Machina" erinnert fühlt, schadet indes nicht – sondern kann eher als ein Lob für Ritch betrachtet werden, der ungleich weniger Geld und Möglichkeiten zur Verfügung hatte. Alles in allem ist "the Artifice Girl" fern von perfekt – bspw. ist es nicht allzu glaubwürdig, dass Cherry nach all den Jahren online, ohne dass sich ihr Äußeres jemals verändert hat, niemandem aufgefallen sein soll – und dennoch ist der Film ein sehenswerter – zumindest wenn man mit einem solchen Dialog-getriebenen Low-Budget-High-Concept-"Indie" etwas anzufangen weiß…
starke